Demokratie im Widerspruch zwischen Sinngehalt und Wirklichkeit


1. Staatsphilosophien gibt es ihrer viele. Je nach Zeit wird der Versuch unternommen, das bestehende Staatsgebilde zu rechtfertigen oder neue zu entwerfen. Teilweise gepaart mit merkantilen Gedankengängen. Doch der Pragmatismus steht über der Philosophie. Bestärkt die Philosophie den Pragmatiker, nimmt er sich gerne dessen an.

 

Philosophie als Bestärkung des Bestehenden oder als Entwurf des Besseren? In beiden Fällen dient der Philosoph nur als Bestärkung für denjenigen, der vorgibt, die Idee zu leben, zu verwirklichen. Der Philosoph ist selten selbst der Revolutionär, der seine philosophischen Gedanken umsetzt. Bestärkt er eine Seite mit seinen Ideen, ist er allenfalls Werkzeug. Ohne Einfluss auf Art und Weise der Umsetzung und Verwirklichung.

 

Der philosophische Kraftakt ist die Entwicklung eines Wertesystems, an der er denn sein Staatschema aufbaut. Das Wertesystem als Grundlage der Überlegung eines Staatssystems. Damit aber sind die Wertesysteme absolute Systeme, Grundanker
der borgestellten staatlichen Verfassung. Wird das Wertesystem verändert, wird ein wesentliches Element der Vorstellung geändert und berührt damit die darauf basierende Verfassung. Derjenige, der die Veränderung vornimmt, mag pragmatische Gesichtspunkte benennen können, die die Veränderung notwendig machen. Doch alleine diese Gesichtspunkte haben auf das Resultat Einfluss. Moleküle können ohne Beeinträchtigung des Ergebnisses nicht beliebig verändert werden; jede Veränderung eines Moleküls einer Gesamtheit hat Auswirkungen auf den Gesamtzustand. Dabei ist der Umfang des Eingriffs beliebig. Die Vorgabe, man wolle so nur das Ergebnis bestärken, rechtfertigt den Eingriff nicht. Denn nicht das Ergebnis wird bestärkt, sondern gerade eine neues willentlich
erzeugt. Wir durch Veränderung der Molekularbasis eine Gegenstand verhärtet und resistent gegen bestimmte Einflüsse gemacht, entspricht dieser nicht mehr dem vorherigen Gegenstand, da dieser gerade nicht resistent war. Auch wenn äußerlich der Eindruck der Gleichheit erweckt wird, ist es nicht der Fall. Damit ist aber auch in Frage zu stellen, ob mit der Veränderung der Grundlagen trotz oberflächlich betrachteter Gleichheit eine solche besteht. 

 

Anders als bei naturwissenschaftlichen Prozessen ist der philosophische Staatsaufbau auf seine Kernaussagen zurückzuführen und lebt von diesen. Er ist auf diese zurückzuführen. Eine Veränderung dort führt also immer zur Veränderung des Ergebnisses.

2. Die Herrschaft des Volkes eines Staates über diesen ist ein komplexes Werk. Es vereinigt notgedrungen die Vermengung verschiedenartiger Interessen, Denkweisen, Vorstellungen und auch Handlungsweisen. Anders als in einer autoritären Staatsform, bei dem eine bestimmte Person oder (schon schwieriger) Personengruppe die Entscheidungsgewalt haben soll, wird sie hier abgegeben an die Bewohner des Staates selbst. Gemeinhin wird diese Form der Herrschaft als Demokratie bezeichnet. Auch hier gibt es bereits verschiedene Grundsysteme, die (mehr oder weniger deutlich) ausgelebt werden. Zum einen z.B. die parlamentarische Demokratie (so in Deutschland, bei der die Bewohner die Parlamente wählen, die ihrerseits die Regierungen wählen und über Gesetze beschließen), zum anderen z.B. Mischsysteme wie in der Schweiz (wo vieles qua Volksabstimmung bestätigt werden muss).

2.1. Es ist vorliegend nicht der Raum, sich hier mit der Effizienz und Praktikabilität der Systeme näher auseinanderzusetzen und zu untersuchen, ob und inwieweit sie dem jeweiligen Grundgedanken der Demokratisierung entsprechen. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Systeme ist jedenfalls die Entscheidungsbefugnis der Bevölkerung. Diese geht in einem System lediglich dahin zu bestimmen, wer von verschiedenen Gruppierungen nach der Mehrheitsmeinung in einem überschaubaren Zeitraum von regelmäßig vier oder fünf Jahren die Entscheidungsbefugnis über die Geschicke der Bevölkerung haben soll, im anderen (zusätzlich) darum, welche Maßnahme getroffen werden soll. Beides setzt Wissen voraus.

 

Wissen ist subjektiv wie auch objektiv zu definieren. Subjektiv ist dabei der Wille, sich Erkenntnisse zu verschaffen, die es einem ermöglichen, eine Entscheidung zu treffen. Erkenntnis ist dabei nicht eine rein subjektive, bar jeder objektiver Befunde aufkommende Meinung. Es verlangt eine Auseinandersetzung. Das Befassen mit der Thematik. Die Erkundung dessen, was alles Grundlage für eine Entscheidung ist und wie sie (und von wem sie) verwirklicht wird. Nur wer dieses Wissen hat, kann tatsächlich, wenn auch sicherlich geprägt von seinen eigenen Interessen, eine Entscheidung treffen. Wissen ist hier nicht die Kenntnis von Parolen oder Antiparolen; es setzt Kenntnis über die tatschlichen Umstände und - bei Wahl von Parlamenten - Kenntnis von dem voraus, was die einzelnen Gruppen wollen. Die Demokratie als Ausdruck des Willens der Mehrheit der Bevölkerung kann von ihrem gedanklichen Ursprung her nur leben, wenn auch aktive Demokratie in Form der Kenntniserlangung zur Willensbildung betrieben wird.


 

2.2. Ist dies im Hinblick auf die Komplexibilität schon schwierig, wird es aber zudem noch weiter erschwert, letztlich unmöglich gemacht. 

 

2.2.1. Es fängt an mit den Gruppierungen (Parteien), die sich zur Wahl für die Parlamente stellen. Selbst bei Kenntnis ihrer Wahlprogramme lässt sich nicht borhersagen, dass diese auch eingehalten werden. Wahlprogramme und –aussagen haben mehr den Charakter von Werbung für Reinigungsmittel: Der Schmutz verschwindet spurlos, mühelos. Die Anwendung durch den Verbraucher lässt Zweifel am eigenen Ich aufkommen. Wahlaussage als reines Werbespektakel oder tiefer Bedeutung ? Damit wird das Volk irregeführt und die Herrschaft durch das Volk ausgehöhlt. Nun werden die Protagonisten dieser Gruppen einwenden, die Verwirklichung scheitere an Koalitionen mit anderen und/oder den aktuellen Tagesthemen. In beiden Fällen ändert sich nichts daran, dass die Wahlprogramme falsch und damit irreführend sind, da sie nicht umgesetzt werden. Der Wähler, der nur durch seine Stimmabgabe an der Herrschaft beteiligt wird, wurde getäuscht.

 

Die Täuschungshandlung kann nicht mit der Angabe beseitigt werden, es hätte eine Kompromiss im Rahmen einer Koalition mit einer anderen Gruppe gefunden werden müssen. Schon vor der Wahl wäre es möglich gewesen sich auf diese Möglichkeit einzustellen und mithin mitzuteilen, welche programmierten Ziele man bereit sei zu streichen oder in gewisser Art und Weise zu revidieren.

 

Schwieriger mag dies bei den sogen. Tagesthemen sein. Es müsste sich dabei um Ereignisse handeln, die so nicht vorhersehbar waren. Politische und wirtschaftliche Umstände, mit
denen faktisch die regierende Gruppe förmlich überrascht wurde. Bedenkt man, dass von Wirtschaftsunternehmen verlangt wird, auch für außergewöhnliche Ereignisse (wie z.B. Ausfall der gesamten Belegschaft) Vorsorge bilanziell (wenn auch nicht in der Steuerbilanz) darzustellen, wäre auch hier sicherlich eine Möglichkeit gegeben, für außergewöhnliche Ereignisse eine mögliche Änderung der programmatischen Daten darzustellen. Das erfolgt aber nicht.


 

2.2.2. Noch problematischer ist aber die allgemeine Kenntniserlangung. Unabhängig von programmatischen Aussagen der Gruppen ist die Kenntnis der tatsächlichen Umstände. Dies setzt nicht nur eine Beschäftigung der staatstragenden Bevölkerung mit diesen voraus, sondern auch deren Kenntnis. Kenntnis ist das Wissen um alle Faktoren, die für die Bestimmung eines Ergebnisses von Relevanz sind. Viele Informationen werden aber nicht erteilt, oder zumindest nicht offen erteilt. Informationen werden verschlüsselt oder gar nicht erst weitergegeben, oder auch falsch weitergegeben. Ob nun wirtschaftliche Daten, die ob der Art
statistischer Ermittlung bzw. Behandlung unverständlich sind oder sogar ein falsche Bild tatsächlicher Umstände abgeben (man denke an die Angaben über die Inflation, die dank eines nicht den Lebensumständen der breiten Bevölkerungsmasse angepassten Warenkorbes nicht der gefühlten (realen) Inflation entspricht, an Arbeitslosenstatistiken, die bereinigt sind um Sonderprogramme für Arbeitssuchende pp., oder aber (teilweise offiziell mit Staatsschutzgründen begründete) Nicht-Mitteilungen über politische Vorgänge betroffen sind, ebenso Negierungen von Umständen bis zum Beweis des Gegenteils - immer handelt es sich um Faktoren, die für die notwendige Meinungsbildung und Entscheidungsfindung (mit) entscheidend sind.

 

Erfolgt aber eine bereinigte Information der staatstragenden Bevölkerung kann diese ihre Funktion in dem Modell Demokratie nicht - schon gar nicht verantwortungsvoll - wahrnehmen. Weitergehend ist sogar ob derartiger geschönter Information fraglich, ob die gewählten Vertreter der Gruppen, die letztlich die staatstragende Bevölkerung repräsentieren sollen, in der Lage sind, Entscheidungen verantwortungsbewusst zu treffen, unabhängig davon, dass ihre Entscheidung ohne Legitimation der staatstragenden Bevölkerung - die wegen fehlender Information ihre Rolle nicht wahrnehmen kann - erfolgt.

 

Sieht man von einer Verschleierung durch Auswahl von Datenmaterialien ab, was sich nicht mit staatstragenden Gründen rechtfertigen lässt, bliebe allenfalls zu prüfen, ob eine Staatssicherheit der Information entgegengesetzt werden kann. Hier bedarf es der Abwägung der Rechtsgüter. Unabhängig davon, dass nicht unbedingt die Staatssicherheit als solche tangiert sein muss, wenn aus diesem Grund Informationen vorenthalten werden, sondern auch ein gefestigter Machtapparat geschützt werden kann / soll, lässt sich die Geheimhaltung ohnehin im Hinblick auf die strukturelle Anlegung des Systems nicht rechtfertigen. Staatssicherheit ist gleichermaßen ein Phänomen, über welches derjenige informiert werden muss, der als erster berufen ist, über die staatlichen Geschicke zu entscheiden. Ist aber als Souverän nicht ein mit absoluter Machtbefugnis ausgestatteter Herrscher entsprechend dem monarchischen Gedanken vorgesehen, sondern die Bevölkerung selbst, dann muss sie auch direkt informiert werden. Die Gefahr der Verbreitung von Informationen, deren öffentliche Kenntnis selbst eine Gefährdung erst herbeiführen kann, die dann nicht mehr beherrschbar oder abwehrbar sein könnte, ist als systemimmanent hinzunehmen. Wollte man dies abweichend beurteilen um den Souverän zu schützen, würde letztlich ein Dritter (nämlich der Informationsträger) an Stelle des Souverän auch Entscheidungen treffen. Dies entwurzelt die systembezogenen Grundlagen und lässt nur noch ein Fragment bestehen, welches auch deshalb bereits fragwürdig ist, da der eigentliche Souverän nicht einmal sicher sein kann, dass die vorenthaltene Information tatsächlich die Sicherheit des Staates als solchen und nicht nur die Sicherheit der freien Handlung derjenigen betrifft, die an sich nur Werkzeug bzw. Vollzugsorgan der Willensentscheidung der staatstragenden Bevölkerung sein sollen. 

3. Das Modell der Selbstbestimmung der Bevölkerung im Rahmen einer parlamentarischen oder auch direkten Demokratie ist gescheitert, wenn es zum einen von denen, die hier zur Mitbestimmung berufen sind, nicht genutzt wird, zum anderen, wenn es mangels umfassender und korrekter Informationen nicht genutzt werden kann.

 

Der Weg zur Demokratisierung ist mithin noch lange nicht vorbei, sondern befindet sich in seinen Anfängen. Solange eine Regierung und der ihr unterstellte Beamtenapparat als auch ein Parlament meint, Entscheidungen treffen zu können, die nicht dem Informationsstand des Souverän entsprechen, ist der Souverän nur Beiwerk und nicht tragend im System. Dies gilt um so mehr dann, wenn die Entscheidungen auf Kontrollen des Souverän gerichtet sind, da diese Kontrollen wiederum einen Machtapparat stärken, der so dem Prinzip der Selbstbestimmung der Bevölkerung widerspricht.