"Deutsche Leitkultur"

 

2000 noch das Unwort des Jahres (Pons-Redaktion). Jetzt wieder proklamiert von Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Aber was soll das sein ? 

 

Bei der Leitkultur handelt es sich um einen gesellschaftlichen Wertekonsens (Bassam Tibi, Politologe). Er geht von dem westlichen Wertevorstellungen aus:

 

"Hier ist der Unterschied zwischen denjenigen Gesellschaften in Europa von Belang, deren gewachsene Identität auf den Citoyen/Citizen bezogen ist, also nicht exklusiv ist (d. h. den Einwanderern nicht nur einen Pass, sondern auch eine Identität bietet), und solchen, die der Ethnizität verhaftet sind. Diese anderen europäischen Gesellschaften, die sich ethnisch-exklusiv definieren - wie etwa Deutschland als „Kulturnation“ - können den Einwanderern keine Identität geben; sie müssen einen kulturellen Wandel vollziehen, um die Fähigkeit zu einer Integration von Einwanderern zu erlangen. Integration erfordert, in der Lage zu sein, eine Identität zu geben. Zu jeder Identität gehört eine Leitkultur.“  (Bassam Tibi: Leitkultur als Weltkonsens. Bilanz einer missglückten deutschen Debatte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Ausgabe 1-2/2001)

 

Seit dem Jahr 2000 wird der Begriff im Zusammenhang mit Zuwanderung und Integration von Einwanderern gebraucht. Friedrich Merz hatte (damals Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Bundestag) am 15.10.2000 in der „Welt“  Regeln für Einwanderung und Integration als freiheitlich-demokratische Leitultur gefordert und sich gleichzeitig gegen Multikulturalismus gewandt. Er sprach von der „deutschen Leitkultur“. 2005 hatte Norbert Lammert (damals Bundestagspräsident, CDU) in einem ZEIT-Interview eine Debatte um die Leitkultur gefordert und wiederholte dies im Zusammenhang mi dem Mohammed-Karikaturenstreit in 2006. 

 

Was aber ist die Leitkultur und eine deutsche Leitkultur ?

 

Jede Nation hat seine eigene Kultur. Sie ist geschichtlich und gesellschaftlich geprägt, beinhaltet Sprache, Religion, Nation, Wertvorstellung und Sitten. Sie unterliegt dem Wandel, wie sich auch daran erhellt, dass in den westlichen Ländern in der Regel die Religion vom Staat getrennt wurde. Die Vormachtsfrage zwischen Staat (Kaiser) und Kirche (Papst), wie sie noch im Mittelalter gestellt wurde, wurde damit hinfällig. Der Staat hatte sich gegen die Religion  - im Westen -  durchgesetzt. Die Säkuralisierung fand ihren Höhepunkt im Reichsdeputaionshauptschluß vom 25.02.1803. Der weitere gesellschaftliche Wandel bahnte sich in Deutschland dann 1848 an, die Demokratiebewegung, und fand ihren ersten Höhepunkt nach dem 1. Weltkrieg mit der Weimarer Republik, sodann – nach dem Nazi-Regime – ab 1945 für Westdeutschland. Dies sind Sprünge, die zu beachten sind. Denn die Leitkultur ist kein Stillstand, sondern eine Bewegung. Sie unterliegt Einflüssen, die von außen oder innen kommen. 

 

Bei der Leitkultur handelt es sich damit um eine geschichtlich bestimmte gesellschaftliche Entwicklung. Wenn dann die Rede von der deutschen Leitkultur ist, wird hier auf die Nation abgestellt und deren Wertvorstellungen und Entwicklung. Die Wertvorstellungen lassen sich mit Menschenrechten, Demokratie, Meinungsfreiheit, Trennung von Staat und Kirche zusammenfassen. Diese Wertvorstellungen haben sich geschichtlich herausgebildet und wurden teilweise erkämpft. 

 

Während Bassam Tibi einen kulturellen Wandel der Gesellschaft fordert, damit dem Zuwanderer eine Identität gegeben werden kann, ist nicht die Anpassung der Kultur einer Nation gefordert, sondern die Anpassung derjenigen, die in diese Kultur einreisen. Es ist die Akzeptanz der kulturellen Bedingungen, nicht der Wille der Veränderung im Sinne einer ehedem heimischen Kultur, zumal dann, wenn diese heimische Kultur den Wertvorstellungen nicht entspricht. Die Integration erfordert allerdings die Akzeptanz des Zuwanderers als solchem, nicht aber die Akzeptanz eines kulturellen Rückschritts wie er mit einer Unantastbarkeit einer religiösen Überzeugung einhergehen würde. Der Wandel der Gesellschaft in dem Land, in dem sich der Zuwanderer aufhält, so insbesondere auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Meinungsfreiheit (einschließlich Satire), ist eine Entwicklungsstufe, dessen Erreichen vom dem Zuwanderer nicht in Frage gestellt werden darf. Die Modifikation ist eine Entwicklung, an der jeder teilhaben kann und teil hat, auch der Zuwanderer, der die Prämissen gesellschaftlicher Entwicklungen anerkennt.  Nur so ist eine friedliche Koexistenz möglich, wie die Geschichte zeigt. Ein Wandel durch Beharren oder gewaltsamer Durchsetzung, wie es auch in Deutschland in früheren Jahrhunderten praktiziert wurde, steht dem entwickelten Wertsystem entgegen.