Das Gartentor


 Ich bleibe stehen – verweile. Vor mir ist ein rotfarbenes Gartentürchen, welches etwas offen nicht mehr richtig in der Verankerung hängt und dessen Streben Bruchstellen zeigen. Teilweise liegt Schnee auf den Verstrebungen. Dahinter ein mit Schnee weiß eingefärbter Gartenbereich, wild durchfurcht von kahlen Ästen. Gedankenverloren bleibe ich stehen.

 

„Großvater, was machst Du da ?“

Ich sehe mich, wie ich mit sechs Jahren fröhlich lachend um die Ecke des Hauses herum renne, direkt auf eine neu gefertigte Gartentür zu.

„Junge, du kannst doch sehen. Eine Tür.“

„Warum machst du hier mitten im Garten eine Tür ?“

„Um Wildtiere wie dich fernzuhalten.“

Der Großvater lächelte dabei und sah mich an.

„Wieso ?“

Der Großvater lachte.

„Bub, wer ist denn letzte Woche durch meine Rosen gerannt ? Und nicht nur das. Von deiner Mutter musste ich mich noch beschimpfen lassen, dorniges anzupflanzen, was dann bei dir Striemen hinterließ - und auch dein Hemd blieb nicht unbedingt ordentlich.“

Ja, ich war die Woche zuvor quer durch die hoch rankenden Rosen gerannt. Zugegeben, es gab etliche blutige Striemen und auch das Hemd wurde an einigen Stellen beschädigt, nur verstand ich nicht, was das nun mit dem Türchen zu tun haben sollte.

Hier nun wurde Großvater ernst. Er sah auf „seinen Garten“, wie er diesen Teil hinter dem Haus bezeichnete. Eine Ansammlung von wunderschönen Blumen und sonstigen Pflanzen, von denen stets einige an verschiedensten Stellen zu jeder Jahreszeit - so nicht Schnee lag - blühten.

„Das ist mein Stolz, Bub“, sagte er.

„Aber das sind doch nur Pflanzen.“

„Ja, aber auch die haben eine Seele - und sie geben viel. Zu jeder Jahreszeit, ja fast mit jeden Monat blühen andere. Man muss sie nur richtig pflanzen, dann hat man das ganze Jahr über blühende Pflanzen. Und man kann sich an ihnen erfreuen.“

Heute meine ich, seine Augen waren feucht, als er dies sagte. Aber vielleicht ist das auch nur Einbildung. Denn heute weiß ich, dass Großvaters Herz an „seinem Garten“ hing. Damals waren es für mich nur irgendwelche Pflanzen, die kommen und gehen, wie auch die Jahreszeiten. Ich habe keine Rücksicht genommen, sondern sie nur als natürliches Hindernis bei meinen Laufen angesehen - und es hat mir viel Spaß gemacht, dadurch zu rennen und eine Spur zu hinterlassen.

„Und warum jetzt das Tor ?“

„Damit du hier nicht mehr durchrennst.“

Ich schaute verdutzt, da ich das nicht verstand. Noch nie hatte mein Großvater deswegen etwas zu mir gesagt. Er schien bemerkt zu haben, dass ich erstaunt war.

„Schau, Pflanzen sind auch Lebewesen. Es gibt solche, die durch eine Zerstörung nicht eingehen sondern im nächsten Jahr wiederkommen. Aber auch solche, die dies übel nehmen, dann nicht wiederkommen. Willst du sie wirklich töten ?“

„Nein !“

Ich war völlig entsetzt, dass ich jemanden, und sei es auch nur eine Pflanze, getötet haben sollte. Mein Auge glitt über die vorhandene Pracht der Fauna. Überall befanden sich Bienen und Schmetterlinge. Auf diese deutend fragte ich, ob die dies dürften. Ein lautes Lachen war die Antwort.

„Die sind notwendig für die Besamung. Ohne Besamung keine Vermehrung.“

„Aber die Vögel, Katzen , Igel und Hasen, die hier häufig sind ?“

Großvater zog die Stirn in Falten.

„Weißt du, nicht nur die sind hier. Auch Iltis und andere Tiere habe ich schon gesehen. Natürlich leiden die Pflanzen manchmal an bestimmten Tierarten. Aber das ist Natur. Ich habe nichts gegen Tiere, die versuchen, sich noch in einem ihnen gewohnten Umfeld zu bewegen. Und das ist es eben hier.“

 

Etwa zwei Jahre später sind wir weggezogen. Ich kann mich noch entsinnen, dass der Umzugswagen vor dem Tor stand. Mein Großvater befand sich an dem Gartentor. Er hatte rote Farbe und bemalte es.

„Wieso bemalst du das Tor ?“

„Auch Holz muss bearbeitet werden, sonst hält es den Witterungseinflüssen nicht stand.“

„Und warum bemalst du es rot ?“

Es erscheint mir heute, im Nachhinein, dass seine Augen wieder feucht waren. Aber ich weiß es nicht mehr.

„Es ist mein Herzblut, verstehst du ?“

Ich verstand nicht. Aber ich habe auch nichts gesagt.

 

Ich hatte meinen Großvater seither nicht mehr gesehen. Als er vor mehr als vierzig Jahren starb war ich im Ausland. Bei seiner Beerdigung war ich nicht anwesend und auch nach dem Umzug nicht mehr hier. Jetzt bin ich wieder da und wollte mir die Gegend meiner Kindheit ansehen. So bin ich zu dem Grundstück gelangt. Die Eingangspforte stand offen, weshalb ich hineingegangen bin.

 

Der Garten, den mein Großvater so gepflegt hatte, ist völlig verwildert. Überall Büsche und Bäume, Brombeerhecken u.ä. Alles überzogen mit einem wohltuenden Weiß des Schnees, der versuchte, etwaige Schandtaten zu verbergen. Nur das Tor ist deutlich zu erkennen, ein Gartentor, welches der Verunstaltung des Gartenbereichs entgegenwirken sollte. Ein Igel, wohl aus dem Winterschlaf erwacht, stapfte durch den Schnee, an einer anderen Ecke eine Katze. In den Bäumen Vögel. Die Natur war geblieben.

 

Mein Blick überstreift noch einmal alles. Es war einmal. Ich drehe mich um, um zu gehen. Es ist mir, als ob mich von hinten mein Großvater anspricht.

„Nun, Junge, bist du doch wieder da und rennst nicht alles um ? Ist nicht die Natur schön ?“

Ich blicke mich um. Aber es ist niemand zu sehen. Deutlich hebt sich nur das rote Gartentor ab.

„Ja, Großvater, sie ist schön.“