Die Scheu vor dem Gericht

 

1. Es war meine (zugegebenermaßen Lieblings-) Nichte, die im jüngsten Kindesalter kurz vor ihrer Einschulung in einem Anflug von Verärgerung über eine Maßnahme ihrer Mutter dieser trotzig erklärte, sie würde jetzt ein Gericht mit ihrem Onkel machen. Was sie sich nun darunter tatsächlich vorstellte, der immer erzählt wurde, der Onkel wäre Anwalt und würde häufig bei Gericht sein, ist leider nicht übermittelt.

 

Ein anderes Erlebnis hatte ich selbst. Meine eigene Tochter musste ich manchmal - wenn mich denn das elterliche Sorgerecht in Form der Aufsicht traf -   mit zu Gerichtsverhandlungen (in Zivilrechtstreitigkeiten) nehmen. Am Anfang war sie sehr scheu und suchte quasi Schutz durch eine Nähe zu mir. Eine der ersten Verhandlungen, die sie so miterleben durfte (musste ?), fand in einem großen hohen Gerichtssaal statt, bei der die Plätze für die „Zuschauer“ einige Meter von den Pults der Anwälte und der (erhöhten) Richterbank entfernt waren. Sie saß auf einem Platz in der vordersten Zuschauerreihe; der Raum war von wartenden Anwälten und Parteien gefüllt. Und da sich die Verhandlung hinzog, da es letztlich immer wieder karusselmäßig zu Wiederholungen kam, verzögerten sich nachfolgende Termine immer weiter und füllte sich der Raum. Die Verhandlung wurde untermalt durch ein leises Flüstern aus dem Zuschauerbereich. Plötzlich aber durchbrach diese Akustik eine helle Stimme (um nicht zu sagen „Stimmchen“) mit den Worten: „Papa, wann können wir endlich gehen ?“ Sofort verstummte das Gemurmel im Zuschauerbereich und auch die Diskussion zwischen uns Anwälten und dem Richter im vorderen Bereich setzte aus; alle Blicke richteten sich auf meine Tochter. Einige Sekunden war alles ruhig. Dann aber brach ein schallendes Gelächter los - im Zuschauerbereich wie auch bei den verhandelnden Anwälten und dem Richter. Es war aber hilfreich. Denn die Verhandlung dauerte nun nur noch wenige Minuten. Es ging also doch kurz und ohne ständige Wiederholungen.

 

2. Immer wieder erlebe ich (und wohl jeder Anwalt) die Unsicherheit eines Mandanten vor und bei einer Gerichtsverhandlung (wobei ich hier nicht ein Straf- oder Ordnungswidrigkeitsverfahren, sondern ein Zivilverfahren meine). Es ist eine Scheu festzustellen, die nur bei denjenigen nicht besteht, die häufiger in Gerichtsverfahren (meist beruflich bedingt) verstrickt sind.

 

2.1. Woher kommt diese Scheu ? Sie ist nicht nur bei Personen festzustellen, die evtl. stets scheu sind, sondern auch bei jenen, die im Alltag gerne als „Macher“ in Erscheinung treten, das Wort führen.

 

2.2. Betrachtet man sich Gerichtsgebäude fällt auf, dass die alten Gebäude (noch aus der Zeit um 1900) grau sind, hohe Vorhallen aufweisen, einen Richtertisch auf einer Empore haben. Der optische Eindruck wird weiter untermalt durch die schwarzen Roben bei Richtern und Anwälten. Architektur und die dramaturgische Untermalung des Geschehensablaufs durch die Kleidung mittels schwarzer Roben sowie dem (jedenfalls in der Regel) geordneten Redeablauf erscheinen furchteinflößend - und sollten das wohl früher auch sein. Das Gericht als die weltliche Instanz, die über Recht oder Unrecht entschied, hatte seinen Machtfaktor auch optisch darzustellen verstanden.

 

Die neuen Gerichtsgebäude entsprechen moderner Architektur. Sie sind regelmäßig hell und „freundlich“ gestaltet. Richter, Anwälte und Zuschauer befinden sich in der Regel auf gleicher Höhe, d.h. der Richter thront nicht mittels Podest über den Beteiligten. Auch wenn damit die psychische Beeinflussung durch die Architektur entfällt, bleibt dennoch die Scheu des Mandanten, wenn er auch regelmäßig merklich ruhiger wirkt.

 

2.3. Die Unsicherheit des Mandanten lässt sich vielleicht damit erklären, dass er weiß, dass der Ausgang des Verfahrens von der Entscheidung des (oder der) Richter(s) abhängt, also sein Obsiegen oder Verlieren von dessen (deren) rechtlicher Würdigung. Dass mag ein Faktor sein. Da ich selber häufig den Beklagten in Schadensersatzprozessen vertrete, bei denen letztlich der Haftpflichtversicherer des Mandanten eintrittspflichtig ist, für den Mandanten materiell also der Ausgang des Verfahrens gleichgültig sein kann, vermag ich dies allerdings nicht als einzige Begründung zu erkennen. Denn auch dieser Mandant zeigt, hat er nicht bereits „Gerichtserfahrung“, Scheu vor dem Gericht und artikuliert auch häufig seine Unsicherheit.

 

3. Faszinierend ist, wenn der Mandant dem Anwalt einen bestimmten Geschehensablauf mitteilt, diesen auch bei Nachfragen stets weiter bekräftigt, und im Rahmen einer Befragung durch den Richter dann entweder gänzlich anderes erklärt oder  - wie eine Art Lebensbeichte - unbefragt derart ausgiebige (dem Anwalt bisher unbekannte) Angaben macht, dass der schriftsätzlich vom Anwalt dargelegte Sachverhalt sich als Makulatur erweist, die Rechtsvertretung durch diese Angaben aussichtslos wird. Dieser Mandant, der (ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt soll hier dahinstehen) seinen Anwalt falsch oder unvollständig informierte, wird offensichtlich „vor den Schranken des Gerichts“ leutselig und ist bedacht darauf, möglichst die Wahrheit zu sagen, nichts als die Wahrheit.

 

Dies wird wohl der Einfluss des Gerichts als solchem sein, einer von ihm anerkannten Instanz. Die Unsicherheit ist also darauf zurückzuführen, dass er nicht weiß, wie er sich verhalten soll, insbesondere was er sagen soll.

 

Davon unterscheidet sich dann der gerichtsgewohnte Mandant. Er weiß, auf was es ankommt und richtet sich darauf ein, auch bei seinen Antworten. Während sich der scheue, unsichere Mandant ob seiner Leutseligkeit also selbst den Prozessverlust begründet, geschieht dies bei dem gerichtsgewandten Mandanten in der Regel nicht. Diese Ungleichheit der Prozessparteien erleichtert natürlich dem Gericht die Entscheidungsfindung nicht (was aber hier nicht weiter thematisiert werden soll).

 

4. Meine Nichte wollte mit mir ein „Gericht“ machen und wohl damit gegen etwas angehen, was von ihrer Mutter bestimmt war. Entweder glaubte sie an die Richtigkeit gerichtlicher Entscheidungen - oder hoffte, dass ihr Onkel sich parteiisch auf ihre Seite stellt. Verbal zeigte sie jedenfalls in diesem Augenblick keine Scheu vor einem Gericht, kannte aber das Gericht als Institution nicht. Meine Tochter kannte das Gericht als Institution und wusste bereits von der Bedeutung der dortigen Entscheidungsfindung; und obwohl selbst nicht betroffen, zeigte sie dort (anders als an anderen Orten und bei anderen Gelegenheiten) zumindest in der ersten Zeit eine gewisse Scheu (später verfolgte sie die für trocken empfundenen Zivilverhandlungen mit Interesse). Ihre zaghafte, wenn auch nicht zu überhörende helle Stimme („Stimmchen“) war letztlich ein Verzweiflungsakt, der die Scheu in diesem Augenblick verdrängte.

 

Die Unsicherheit des Mandanten hängt wohl entscheidend davon ab, dass er instinktiv erfasst, dass sein Wort auf die Waagschale gelegt wird. Ungenaue Ausdrucksweisen, wie sie eventuell im privaten Bereich vorgebracht werden, können vor Gericht eine fatale, gegen ihn sprechende Wirkung haben. So fällt auch auf, dass Personen mit einem höheren Bildungsstandard weniger Scheu haben und sich auch bei Fragen des Gerichts regelmäßig auf eine exakte, nicht ausschweifige Beantwortung beschränken.